Regierung propagiert Zwei-Klassen-Medizin und ignoriert drohenden Pflegekollaps

Zur Generaldebatte der Regierungserklärung im Bundestag warnt der AWO-Bundesverband davor, dass die geplante Reform der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung völlig einseitig die Arbeitnehmer belastet und gezielt eine Zwei-Klassen-Medizin ausbaut, in der sich nur noch Besserverdiende eine gute Versorgung leisten können. "Große Bevölkerungsgruppen müssten gravierende Nachteile befürchten, da gesundheitliche Risiken künftig über private Zusatzversicherungen abgesichert werden müssten", kritisiert AWO-Bundesvorstand Rainer Brückers. "Die geplante radikale Gesundheitsreform der schwarz-gelben Koalition bedeutet aller Voraussicht nach Mehrkosten für Kassenpatienten und führt zur Entsolidarisierung und Schwächung unserer sozialen Sicherungssysteme."

Als ungerecht und unsolidarisch kritisiert die AWO vor allem die geplante Festschreibung des Arbeitgeberanteils, womit die Versicherten dann alleine für Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zahlen müssten, sowie die propagierte Einführung einer einkommensunabhängigen "Kopfpauschale", für die der Manager genauso viel zahlen müsste wie ein Niedriglohn-Arbeiter.

"Unverantwortlich ignorant ist es, dass der Koalitionsvertrag keinerlei Antworten auf eines der dringendsten Probleme in der Pflege gibt", kritisiert AWO-Chef Brückers. "Das grenzt an Zukunftsverweigerung, denn mit der Alterung unserer Gesellschaft werden immer mehr Menschen pflegebedürftig, gleichzeitig gibt es aber immer weniger qualifiziertes Pflegepersonal, weil die Arbeitsbedingungen in der Branche so schlecht sind."
Schon jetzt ist der Fachkräftemangel akut, bald könnte er in einen regelrechten "Pflegekollaps" münden, denn zu den herrschenden Bedingungen können und wollen immer weniger junge Leute einen Pflegeberuf erlernen. "Doch statt die Arbeitsbedingungen und vor allem auch die Bezahlung in der Branche zu verbessern, setzt die Koalition fast ausschließlich auf die Stärkung und den Ausbau der familiären Pflege und des bürgerschaftlichen Engagements", kritisiert Brückers. Doch durch den demografischen Wandel und veränderte Lebensstrukturen sinken die Bereitschaft und Fähigkeit zur Pflege von Angehörigen und es gibt immer weniger pflegende Angehörige.
Zudem setzt der Koalitionsvertrag auf den vermehrten Einsatz von Hilfskräften. Doch bereits jetzt liegt der Anteil der Hilfskräfte in der stationären Pflege über 50 Prozent und in der ambulanten Pflege noch deutlich darüber. So sind die Fachkräfte statt mit der Pflege und Betreuung zunehmend mit der Anleitung und Überwachung der Hilfskräfte beschäftigt. "Ein weiterer Ausbau des Hilfskräfteeinsatzes würde die verbliebenen Fachkräfte noch weiter binden und ist überhaupt nicht geeignet, die Probleme des Fachkräftemangels zu lösen", betont der AWO-Chef. "Hier hilft nur die konsequente Förderung des Berufs durch mehr Anerkennung, der Übertragung von Verantwortung und nicht zuletzt die angemessene Bezahlung."
"Stattdessen zeichnet sich im Koalitionsvertrag ein böser Rückschritt ab, indem die neue Regierung den Mindestlohn in der Pflege grundsätzlich in Frage stellt", befürchtet Brückers. Die AWO hat die Aufnahme des Pflegebereichs in das Entsendegesetz federführend auf den Weg gebracht, eine Kommission verhandelt bereits über Höhe und Ausgestaltung des Mindestlohns in der Pflege. Doch im Koalitionsvertrag legen die Parteien fest, dass künftige Branchenmindestlöhne einvernehmlich im Kabinett geregelt werden müssen, nicht mehr allein vom Arbeitsminister. Damit hat die FDP, die Mindestlöhne generell ablehnt, praktisch ein Vetorecht.

Zudem kritisiert der AWO-Bundesverband, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen im Koalitionsvertrag praktisch keine Beachtung finden. Sie werden gerade mal an zwei Stellen oberflächlich erwähnt und es finden sich keinerlei Aussagen zur Stärkung der Beteiligungsrechte von Menschen mit Behinderung und zur Umsetzung der Leitidee der Inklusion. Keinerlei Beachtung findet auch die Reform der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung" und die Teilhabe am Arbeitsleben. "Hier muss die neue Regierung dringend nachbessern", fordert AWO-Chef Brückers.