Studie der bayerischen AWO: Exportüberschuss verursacht 125 Mrd. Euro Mehrwertsteuerverlust

Die einseitige Ausrichtung auf den Export hat dazu geführt, dass die deutsche Volkswirtschaft in der Krise besonders tief abgestürzt ist - darin ist sich die Mehrheit der Ökonomen einig. Jetzt wird diskutiert, wie die Rettungsprogramme und Konjunkturpakete refinanziert werden sollen. Der Landesverband der Arbeiterwohlfahrt in Bayern eröffnet die Diskussion darüber, dass den öffentlichen Haushalten seit dem Jahre 2000 mindestens 125 Mrd. Euro Mehrwertsteuerabgaben entgangen sind. Ursache ist gerade die einseitige Exportpolitik der letzten Jahre.

Thomas Beyer, der Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt in Bayern kommentiert das Ergebnis einer Expertise zu diesem Thema, die der Wohlfahrtsverband gefördert hat und die bei der Studiengruppe für Sozialforschung e.V. (Marquartstein) ausgearbeitet worden ist, wie folgt:

"Wir wollen eine Diskussion über die Mehrwertsteuer-Lücke, die auch die Sozialhaushalte der Länder und Gemeinden betrifft und die eine Folge der einseitigen Steigerung der Ausfuhrüberschüsse ist. 125 Mrd. Euro Mehrwertsteuerverlust seit dem Jahre 2000 sind ein zu hoher Preis für den Titel des "Export-Weltmeisters". In den kommenden Verteilungskämpfen werden wir sehen, dass die Folgen des Export-Exzesses die Sozialhaushalte zu strangulieren drohen."

Die Untersuchung ermittelt die Höhe derjenigen Mehrwertsteuer-Einnahmen, die Bund, Länder und Gemeinden entgangen sind, weil immer größere Teile des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht in die private, soziale und staatliche Nachfrage oder in Investitionen im Inland gegangen sind, sondern ins Ausland exportiert worden sind.

Das Volumen und den Zeitverlauf von Exportüberschuss und Umsatzsteuerverlust zwischen 2000 und 2007 zeigt die folgende Übersicht bzw. Grafik.

Mehrwertsteuer-Lücke
beim "Export-Weltmeister" Deutschland 2000 - 2007

Jahr
Exportüberschuss1)
Mrd. EUR
Umsatzsteuerverlust
Mrd. EUR
2007
+ 169.840
- 32.2692)
2006
+ 126.380
- 20.220
2005
+ 113.330
- 18.132
2004
+ 111.030
- 17.764
2003
+ 85.930
- 13.748
2002
+ 97.720
- 15.635
2001
+ 42.510
- 6.801
2000
+ 7.250
- 1.160
2000 - 2007
+ 753.990
- 125.729

1) Export abzüglich Import
2) Ab 2007 gilt ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent gegenüber 16 Prozent in den Vorjahren
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Statistisches Taschenbuch: Arbeits- und Sozialstatistik 2001, Bonn 2001 und Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Statistisches Taschenbuch: Arbeits- und Sozialstatistik 2008, Bonn 2008

 

Mehrwertsteuer-Lücke
beim "Export-Weltmeister" Deutschland 2000 - 2007

Diagramm zur Darstellung der Werte aus der vorangegangenen Tabelle

awo-marquartstein

 

 

Kurzauszug aus der Studie:*

S. 6 ff.
"Internationale Wettbewerbsfähigkeit" als Leitlinie für die Formierung der gesamten Gesellschaft und insbesondere für die Ausrichtung der Reformen der zurückliegenden Jahrzehnte war die politische Umschreibung einer für die und von den exportprägenden Branchen und Großunternehmen des Maschinenbaus, des Fahrzeugbaus sowie der Chemie und Pharmazie1 gestalteten Wirtschaftspolitik der Förderung und Steigerung der Exporte.2

Schon seit einigen Jahren haben Ökonomen und andere Experten vor den Risiken und Kosten dieser einseitigen Exportforcierung im deutschen Wirtschaftskonzept gewarnt.

So bedeuten lang anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse bei Gütern und Diensten gesamtwirtschaftlich eine Dauerkreditvergabe ins Ausland, d. h. einen Export von Kapital. Dieses Kapital fehlt dann für Investitionen im Inland.3 Umgekehrt bewirkt die damit verbundene wachsende Verschuldung vor allem der übrigen EU-Länder gegenüber Deutschland, dass sich deren Wachstumsmöglichkeiten verschlechtern und damit der Export in diese Länder durch seinen eigenen Erfolg unterminiert wird.4

Vor allem aber bewirkt die Exportsteigerung mittels Entgelt- und Entgeltersatzunterdrückung eine zunehmende Stagnation der Binnennachfrage und damit der Voraussetzungen für Investitionen und Produktivitätssteigerungen.5

Zuletzt üben die mit der exzessiven Exportsteigerung und der dieser dienenden Entgelt- und Entgeltersatzunterdrückung, d. h. Inlandsnachfrageschwächung verbundenen Lohn- und Verbrauchssteuerverluste wachsenden Druck auf den gesamten Daseinsvorsorgebereich aus, der durch Leistungsabbau einerseits und Privatisierung andererseits gekennzeichnet ist.

Dabei werden dann die privatisierten Bereiche der Daseinsvorsorge zu Besteuerungsobjekten bzw. Steuereinnahmequellen.6

Durch die Finanz- und vor allem die nachfolgende Realkrise hat nun aber auch die Medienöffentlichkeit die Hochrisiken und Negativwirkungen des regelrechten Exportexzesses im deutschen Wirtschaftskonzept entdeckt - wenn auch weitgehend nur auf der Ebene von "Schattenseiten" der ausgeprägten Orientierung auf einen in die Krise geratenen Weltmarkt.7

Gleichwohl ist es zutreffend, dass das Herunterdrücken der Primär- und Transfereinkommen mit der Dauerdrohung einer noch stärkeren Flucht der Produktion in den Welthandel zwar die Arbeitskosten niedrig gehalten hat, jetzt aber auch keine Inlandsnachfrage als Krisenpuffer zur Verfügung steht.8

S. 9 ff.
Bislang wurde der Zusammenhang von Export-Exzess und Mehrwertsteuer-Rückgang vorrangig unter dem Gesichtspunkt diskutiert, dass die durch "Lohnzurückhaltung" und Rentenstagnation seit etwa einem Jahrzehnt zurückbleibende Inlandsnachfrage sich auch in einem verringerten Mehrwertsteueraufkommen niederschlägt.9 Nachfolgend soll nun die Mehrwertsteuer-Lücke näher beschrieben werden, die sich aus dem steilen Ansteigen der Exportüberschüsse vor allem ab dem Jahr 2000 ergeben hat. Sie kann als prominentes Beispiel für die direkten fiskalischen Kosten aufgeführt werden, die durch die wirtschaftskonzeptionelle Dominanz der Exportbranchen und den wirtschaftspolitisch gewollten und geförderten Export-Exzess verursacht worden sind.

S. 13 ff.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) streift in seinem Gutachten zur Finanzkrise die Entwicklung der Umsatzsteuer nur ganz beiläufig. Er führt die "nur geringfügige" Zunahme der indirekten Steuern also auch der Umsatzsteuer auf die "verhaltene Nachfrage"10 nicht aber, wie es angemessen gewesen wäre, vor allem auch auf den explodierten Export zurück.11


* Goeschel, Albrecht: Mehrwertsteuer-Lücke und Export-Meisterschaft: Gesamtwirtschaftliche und armutspolitische Anmerkungen zur Mehrwertsteuer-Debatte. (Hrsg.): Studiengruppe für Sozialforschung e.V., Marquartstein Juli 2009
1 Vgl. Loschky, Alexander; Ritter, Liane: Konjunkturmotor Export. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik, 5-2007, S. 478-488 und Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Konjunkturmotor Export - Materialienband, Wiesbaden, 30.05.2006
2 Noch Mitte 2008 phantasierte der Spiegel: "Der Export verschafft der deutsche Wirtschaft besonderes Profil - und eine bemerkenswerte Kraft: Selbst die Finanzmarktkrise und der Energiepreisschock können ihr wenig anhaben" - Vgl. Made in Germany, Spiegel-Spezial 5/2008, S. 6
3 Vgl. Flassbeck, Heiner; Spiecker, Friederike: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit, Frankfurt am Main 2007, S. 247 ff., S. 254, S. 263
4 Vgl. Flassbeck, Heiner; Spiecker, Friederike: A.a.O., S. 131 und S. 189 ff.
5 Vgl. Bofinger, Peter: Wir sind besser als wir glauben. München 2005, S. 163 ff., Flassbeck, Heiner; Spiecker, Friederike: A.a.O., S. 83 ff., S. 140 und S. 249 ff. sowie Posen, Adam S.: Exportweltmeister - na und? In: Schettkat, Ronald; Langkau, Jochem (Hrsg.): Aufschwung für Deutschland, Bonn 2007, S. 165-193
6 Vgl. Goeschel, Albrecht: Exportwettlauf in die Armutsfalle. In: Sozialverband VdK-NRW (Hrsg.): Große Koalition - Enkelkinder und Großeltern gegen Bildungskrise und Altersarmut. Düsseldorf 2008, S. 63-81 und ders.: Privatisierung und Besteuerung des Gesundheitswesens: Qualitätsminderung der älterenbezogenen Versorgung am Beispiel der Krankenhauswirtschaft. In: Sozialverband VdK-Bayern (Hrsg.): Die demographische Täuschung, München 2007, S. 113-134
7 Vgl. Hagellüken, Alexander: Die Schwäche des Exportweltmeisters. In: Süddeutsche Zeitung, 9.01.2009; Schäfer, Ulrich: Die Globalisierung schlägt zurück. In: Süddeutsche Zeitung, 14./15.02.2009; Piper, Nikolaus: Schicksal Export. In: Süddeutsche Zeitung, 30.04./1.05.2009; Büschemann, Karl-Heinz: Fataler Absturz. In: Süddeutsche Zeitung, 10./11.06.2009 und Hagellüken, Alexander: Noch ein Schock. In: Süddeutsche Zeitung, 12.06.2009
8 Vgl. Arbeitskosten - Exportorientierung wird zur Hypothek. In: Böckler-Impuls, Düsseldorf 19/2008
9 Vgl. Goeschel, Albrecht: Export-Terror gegen den Sozialstaat: Wirtschaftskonzept des politischen Systems zerstört Soziale Ordnung in Deutschland. In: Gesundheitspolitik 3/2007, S. 70
10 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Die Finanzkrise meistern - Wachstumskräfte stärken - Jahresgutachten 2008/09, Wiesbaden November 2008, S. 198 ff.
11 Auch die "verhaltene Nachfrage" als Reflex der "Lohnzurückhaltung" ist im übrigen, wie dargestellt ein Teil der Negativeffekte der einseitigen Exportförderung